Texte zu den Arbeiten von Ruth Handschin

Ausstellung In voller Blüte

Mit Obsession und Sensibilität zugleich nimmt sich Ruth Handschin in ihrer Kunst der missliebigen Wildpflanzen und wuchernden Begleitvegetation an – all jener Pflanzen also, die wir despektierlich als sogenannte Unkräuter mit allen Mitteln und Wegen, mechanisch und chemisch, aus der kultivierten Natur zu verbannen suchen. Flora non grata, die nicht erwünschte Pflanzenwelt, ist ihr Quelle der Inspiration und Wurzel ästhetischer Formuntersuchungen. Die Geringschätzung dieser Pflanzengesellschaften ist ihr Ansporn genug, sich mit den Mitteln der Kunst gegen ein zwanghaftes Bändigen der Natur und für eine ökologische Biodiversität zu engagieren.

„Sie werden meist nicht beachtet und sind doch überall zu finden: Pflanzenformen, kleine bis winzige Skulpturen, Kostbarkeiten kostenlos hingestreut.“ Ruth Handschins Plädoyer für die Schönheit des Randständigen basiert auf der Faszination für die Schöpfungskraft der Natur und ihren unfassbaren Formenreichtum. In vielen Jahren der künstlerischen Feldforschung hat sie „…unzählige Kleinstschätze geborgen. Transformiert lagern sie in den Tresoren des Ateliers.“

Die Pflanzenwelt der Flora non grata ist anspruchslos und bescheiden. Ruth Handschin fasziniert die Morphologie von Blättern, Blattstellungen und Samen. Sie analysiert und präzisiert die organischen Formen, um die ästhetische Seite der Natur ganz auf ihren grafischen Zuschnitt zurück zu führen. Aus Konturen, Silhouetten und Schattenrissen ist ein System aus Piktogrammen entstanden, mit denen die Künstlerin ihre unverwechselbaren Rauminstallationen entwickelt.

Ruth Handschin schafft mit dem Formenvokabular der Flora non grata begehbare Zeichnungen aus fluoreszierender Leuchtfolie. Sie entwickelt ihre Arbeiten stets ortsspezifisch, schneidet winzige Pflanzenformen in monumentaler Vergrösserung zu, passt sie den architektonischen Verhältnissen und ihrem künstlerischen Wollen an, bevor sie sie auf die Wände aufbringt. Mit signalhafter Wirkkraft durchdringen die Leuchtzeichen die Atmosphäre der abgedunkelten Räume. Alles ist in ein technoides Licht getaucht. Nichts deutet mehr auf den organischen Ursprung des Abgebildeten hin. Und so werden wir hinein gezogen in eine Welt, die sich der Natur entfremdet, die ihre evolutionäre Artenvielfalt in eine künstlerische verwandelt und mit unausweichlicher Eindringlichkeit unseren Blick für die Schönheit des Unscheinbaren öffnet.

Stefanie Dathe, Museum Villa Rot bei Ulm, 2008

25.06.2004

Kuckucksei im Königsnest

Die Zürcher Künstlerin Ruth Handschin präsentiert wertlose Wiesenkräuter in 24 Karat Gold – und stellt damit bestehende Wertsphären nachhaltig in Frage, zum Beispiel in ihrem Kunst-am-Bau-Projekt an der Universität Zürich auf dem Irchel-Campus.

Oben, im ersten Stock auf dem grossen Ateliertisch, liegt sie, ihre ganz persönliche «Bibel»: Laubers «Flora Helvetica», ein Wälzer dick wie ein Ziegelstein, Umfang 1615 Seiten. Die Botaniker-Fibel bringt sämtliche 3000 Wildpflanzen der Schweiz in 3773 Farbfotos zur Darstellung. Ein wahrlich enzyklopädisches Werk, das den Stempel leidenschaftlicher Akribie trägt – wie auch jenes der 1949 geborenen Künstlerin Ruth Handschin. Seit über zwanzig Jahren ergründet, archiviert und kommentiert sie mit den Mitteln der Kunst, was manchem Gartenfreund den Schweiss auf die Stirn treibt: wild wachsende Pflanzen, «Unkraut» im Volksmund.

Handschin deutet auf eine Serie von Fotografien, die sie jüngst im neuen Stadtteil Zürich Nord gemacht hat: Der Blick fällt auf das kurz gemähte Rasenfeld des Louis-Häfliger-Parks, dann auf eine Flucht rasterartig aufgereihter Bäume im Oerliker Park. Ein botanischer Truppenaufmarsch, dem Ruth Handschin wenig abgewinnen kann. Dasselbe Bild kultivierter und gebändigter Natur prägt auch das Gebiet um den neuen Potsdamer Platz in Berlin. Die Künstlerin hat dieses von Grund auf umgestaltete Areal zwecks Spurensicherung immer wieder aufgesucht. «Dort, wo heute Zuchtrasen wächst, blühte damals, entlang der Berliner Mauer, eine ungeheuer vielfältige Natur», erzählt sie und macht aus ihrer Entrüstung über deren Verschwinden kein Hehl.

Schon früh hat Handschin beschlossen, dem unerwünschten Teil der pflanzlichen Natur ein Monument zu errichten. Sie begann zu sammeln, an Wegrändern, auf dem täglichen Weg ins Atelier, auf ihren zahlreichen Reisen, die sie bis nach Sri Lanka führten, wo die schönsten botanischen Gärten zu finden seien. Die mitgebrachten Pflanzen und Samen presst sie zu Hause, fotokopiert sie anschliessend auf A3-Bögen und gruppiert sie zu dicken Bündeln. Dieses «Herbarium» ist der unerschöpfliche Formenpool, aus dem Ruth Handschin immer neue Inspiration bezieht. Methodische Richtlinien bestimmen das weitere künstlerische Vorgehen: In einem Abstraktionsprozess wird aus den unterschiedlichen Blattformen einer Pflanzenart der klar erkennbare Grundtyp herausdestilliert. Ist das allgemeine Strukturprinzip einmal gefunden, wird es vergrössert und in raumfüllenden Leuchtzeichnungen, übergrossen Schattenrissen oder Gipsplastiken in immer neuen Varianten in Szene gesetzt.

So löst Handschin manches unscheinbare Wiesenkraut aus dem unbeachteten Naturzusammenhang. «Flora non grata» nennt sich dieses Langzeitprojekt, dessen Ziel es ist, die Augen für die morphologische Pracht des vermeintlich Wertlosen zu öffnen. Es hat seinen Weg mittlerweile in zahlreiche Ausstellungsräume im In- und Ausland gefunden.

Mit verschiedenen Kunst-am-Bau-Projekten dringt die Künstlerin auch in die Öffentlichkeit vor. In München gestaltete Handschin ein 6,4 mal 4,7 Meter grosses Wandsegment mit Blattformen von Wildpflanzen. Auch in Zürich ist die gebürtige Baslerin mit einer Arbeit präsent: Im ersten Stock des Baus 55 der Universität Irchel befindet sich ihre monumentale Wandarbeit «Letters from nature» (2002). Sie stellt in silhouettenhafter Reduktion 44 Blattformen aus dem nahen Irchel-Park vor. Moschus-Malve, Schotenkresse, Bocksbart – Handschin beantwortet jede Nachfrage postwendend und ist so leicht nicht in Verlegenheit zu bringen. Ihre botanische Sachkenntnis liessen manchen Fachmann erstaunen.

Besonders überraschende Bezüge schafft Handschin in ihrer jüngsten Arbeit. «La nouvelle tenue royale» nennt sich die Stoffmusterkollektion, die an drei Wänden des Instituts für Hirnforschung angebracht ist. Sie schliesst ausgerechnet die Fleur-de-lis, das vornehme Lilienemblem der französischen Monarchie, mit einer Sammlung helvetischer Unkrautblätter kurz. Sonnenkönig Louis XIV., berüchtigt für das Zurechtstutzen pflanzlicher Natur, in Wicke, Gänsedistel und Hirtentäschel gewandet? Wider Erwarten würde ihm der neue Entwurf wohl anstehen. Denn die in Blattgold gehaltenen Schattenrisse entfalten auf ihrem königsblauen und purpurroten Grund eine ungeahnte Pracht. So ist denn die augenzwinkernde Rache an dem distinguierten Monarchen auch gleichzeitig ein Plädoyer für die Vielfalt, Schönheit und den Formenreichtum der gering geschätzten Gewächse – und als solches eine subversive Geste, die bestehende gesellschaftliche Wertsphären nachhaltig in Frage stellt.

Sascha Renner, Redaktor unijournal, Zürich, 2004

Wilde Nachbarn

Vertrauter als der Anblick von Gänseblümchen ist Kindern heute längst der Umgang mit Gameboy und Handy. In einer total ökonomisierten Welt weiden milkablaue Kühe und wachsen Äpfel nicht auf den Bäumen, sondern im Supermarkt. Die Aneignung der Natur durch die Zivilisation führt zur Überformung und Ausblendung des Wilden. Gewächse, die nicht als Zier- oder Nutzpflanze dienen, fallen unter die Kategorie „Unkraut“. Sie sind, um den Begriff zu wählen, mit dem Ruth Handschin ihre Kunst seit Jahren überschreibt:“flora non grata“.

Mit ihrer über zwei Etagen reichenden Wandinstallation „Wilde Nachbarn“ lenkt Handschin den Blick auf jene Pflanzen, die in unseren Städten rar geworden sind und die doch hin unmittelbarer Nähe der Kindertagesstätte wachsen, auf Pflanzen, die nicht künstlich gesät werden, sondern die sich selbst setzen und deren erstaunliche Vielfalt gewöhnlich übersehen wird. Die Grösse von Handschins Pflanzenblättern – die Kinder stehen vor ihnen wie Alice im Wunderland – enthüllt die Schönheit und das radikale Individuationsprinzip des Wildwuchses. Jede Pflanze verfügt über einen eigenen Charakter und transportiert über ihre Form eine eigene Atmosphäre. Der elegante Schwung des Bocksbartblattes steht neben dem filigranen Geästel der Möhre, das mild Herzförmige der Winde neben dem scharf gezähnten Brennesselblatt und den wehrhaften Stacheln der Gänsedistel.

Die Silhouetten der Pflanzenblätter und die hoch energetische Farbigkeit mit ihrem dunklen Blau auf leuchtend gelbem Grund produzieren eine vitale Zone. Bereits von weitem sichtbar wirken die Pflanzen als ein programmatisches Zeichen für die Kindertagesstätte, die auch eine Freilandgruppe beherbergt. Sie strahlen über die Kindertagesstätte hinaus in den öffentlichen Raum hinein. In einem Neubaugebiet, in dem latent Uniformität herrscht, definieren sie den Ort als Singulären.

Heinz Schütz, München, 2004

Natur im Schwarzlicht

Ruth Handschins künstlerischer Umgang mit Licht liegt in ihrem Interesse an Pflanzen begründet. Was paradox klingt – aber vielleicht so paradox wiederum nicht ist, schliesslich wächst keine Pflanze ohne Licht – klärt sich, wenn man den Zugang der Künstlerin zu botanischen Fragen in Rechnung stellt, ihre Aufmerksamkeit, die sie vor allem den Pflanzen zuwendet, die gemeinhin als Unkraut gelten: Zaunwinde, Distel, Löwenzahn oder Vogelmiere und alles andere, was wir normalerweise ordentlich aus unseren Gärten entfernen oder achtlos niedertreten, wenn es aus städtischen Pflaster- oder Mauerritzen herauswächst.

Ruth Handschin hat eine umfassende Typologie von Blattformen entwickelt in Bleistiftzeichnungen, plastischen Umsetzungen in Gips oder vollflächig aus schwarzem Papier geschnitten für Installationen von imponierender Formvarianz. Diese Pflanzen, solcherart für viele Zeitgenossen überhaupt erst wahrnehmbar gemacht, bringt die Künstlerin schliesslich zu monumentaler Ausstrahlung durch ihre Übersetzung in Leuchtzeichnungen: Bezogen auf die jeweilige Raumsituation schneidet sie die Umrisse der Blattformen linear aus fluoreszierendem Papier und bringt sie als Anamorphose präzise an die Wand und auf den Boden: Das heisst, nur aus einer bestimmten Perspektive sind die Formen „richtig“ und „ganz“ wahrnehmbar; alle andern Standpunkte lassen sie verzerrt erscheinen. „Ich stehe mitten in der Leuchtzeichnung und kann sie abschreiten. So wie ich mich bewege, verändern sich auch die Formen. Was eben noch ein Kreis war, wird nun zu einer meterlangen Ellipse, die ganze Zeichnung zu einem Zerrbild. Doch beim Weiterschreiten löst sich die Anamorphose auf, und die Gestalten nehmen erneut klare Proportionen an“ (R.H. über ihre Arbeit).

Die Formen, im Tageslicht nur schwach sichtbar, beginnen zu leuchten, wenn sie bei verdunkelter Umgebung mit Schwarzlicht, also ultraviolettem Licht aktiviert werden. In der Dämmerung entsteht ein irisierender, grünlich-gelblicher Schein auf Hellviolett, der sich bei völliger Dunkelheit zu Giftgelb auf blauviolettem Grund verändert. Der Betrachter kann sich der Faszination nicht entziehen: Die brennende Intensität der Leuchtfarbe in der dunklen Umgebung irritiert sein Auge; Dimensionen und Ränder von Wandflächen und Boden verlieren ihre Klarheit; die Zeichnung scheint sich von Wand und Boden zu lösen. Wenn Pflanzen je Zauber und Kräfte in sich bargen, so gibt Ruth Handschin ihnen mit Schwarzlicht und Leuchtpapier ein Stück Magie zurück, eine Magie, die also mit kühlen technischen Mitteln hervorgelockt wird und die ebenso vergänglich ist, wie die Pflanzen selbst: Denn nach Ende der Ausstellung wird die Zeichnung von den Wänden genommen und es bleibt allein die fotografische Dokumentation.

Marlene Lauter, zur Ausstellung Farblicht in Würzburg und Heidenheim, 1999

Nützliche und schädliche Pflanzen

Die mit dem ästhetischen und materiellen Gebrauch der Pflanzenwelt einhergehende Aufteilung in nützliche und schädliche Pflanzen ist das Thema der Schweizer Künstlerin Ruth Handschin. Sie interessiert sich für jene Pflanzen, die es auszumerzen gilt, weil sie den Wuchs der Kulturpflanzen beeinträchtigen. So richtet die Künstlerin ihren Blick gezielt auf das Unkraut, also alle unscheinbaren, unnützen und hässlichen Pflanzen. Wie eine Naturforscherin sammelt und untersucht sie systematisch das Unkraut in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen. Wurzeln, Stamm, Blüte, Früchte, Blätter, Blattstellungen und Blattränder hält sie in ihren Zeichnungen fest und entwickelt daraus das Vokabular der Flora non grata.

Im Unterschied zu den kultivierten Blumen mit ihren farbigen und meist sanften Blütenformen zeichnet sich die Pflanzenwelt des Unkrauts eher durch bescheidene Blütenstände und monochrome Farbigkeit aus. Statt dessen besitzt es jedoch häufig eine interessante Morphologie, wie sich etwa in den unterschiedlichen Zacken der Blattränder und Blattstellungen zeigt. Diese eigentümlichen Strukturen macht Ruth Handschin unter anderem in Scherenschnitten und Lichtzeichnungen sichtbar, die durch den binären Helldunkel-Kontrast die Blattformen mit ihren zackigen Rändern am eindrücklichsten zur Geltung bringen. Ins Monumentale vergrössert zeigt uns die Künstlerin so die faszinierende Formensprache einer Pflanzenwelt, die es als natürliches Lebenssystem, als Biotop, gar nicht gibt. Sie ist vielmehr ausschliesslich das Produkt eines menschlichen Ausschlussverfahrens, das zwischen nützlicher und schöner Flora einerseits und der Flora non grata andererseits unterscheidet.

Mit ihren monumentalen Scherenschnitten, Lichtzeichnungen und Plastiken zählt Ruth Handschin damit zu den wenigen Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit den Pflanzen tatsächlich als Realien, also als wirkliche Dinge, beschäftigen und sie nicht ausschliesslich durch den Filter ihrer ästhetischen Nutzung durch den Menschen betrachten.

René Hirner, Ausstellung Flowers, Kunstmuseum Heidenheim, 2006

Raumzeichnungen - Zeichnungen zur Zeit

Körperlos war sie per Definition, antiplastisch, als „Handzeichnung“ dem Papier eingeschrieben, als Flachware geborgen in den Schubladen der Kabinette – bis sich die Zeichnung Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre aus ihrem engen Operationsfeld emanzipierte, bis gattungsbezogene, konzeptionelle Schranken fielen….Mit Nachdruck wurden die Grenzen zu anderen Gattungen aufgelöst, so dass das Medium Zeichnung heute in allen Bereichen der Gegenwartskunst nicht nur präsent ist, sondern vielerorts mit neu erprobten Methoden und Materialien auch die Entwicklung neuer Bildvorstellungen vorantreibt.

….Einen ähnlichen Aha-Effekt bei der Lösung eines perspektivischen Rätsels nutzt Ruth Handschin für ein Plädoyer zugunsten der Schönheit wilder Pflanzen. In einer Raum füllenden Leuchtzeichnung verfremdet die Schweizerin einen aus dem Formenpool ihres Herbariums entnommenen Löwenzahn („Taraxacum“, 2001) zum anamorphotischen Papierschnitt, einem verknickten Blatt Flora, auf dem der Betrachter so lange ratlos herumtrampelt, bis sich ihm aus dem einen Blickwinkel die morphologische Pracht des vermeintlich wertlosen Unkrauts offenbart.

Fritz Emslander, Kunstforum April/Mai 2009

Linien im Raum

Ein dunkler Raum, in Schwarzlicht getaucht. Fluoreszierende Linien ziehen sich wie ein magisches Band über den Boden und die Wände. Zunächst folgt nur das Auge den Linien, dann der ganze Körper. Eine begehbare Zeichnung, deren Formen sich mit der Bewegung verändern. An bestimmten Punkten wird die ganze Zeichnung zum Zerrbild, doch im Weitergehen löst sich die Anamorphose auf und die Form nimmt wieder klare Gestalt an. Aber um welche Form handelt es sich? Der Titel bringt uns auf die Spur: Creeping Buttercup, zu Deutsch Ranunkel, besser bekannt als Hahnenfuss. Linien kriechen im wahrsten Sinne des Wortes durch den Raum und bezeichnen hier den isolierten Umriss eines Blattes. Ruth Handschin hat die vergrösserte und idealisierte Form des Blattes als Cutout aus fluoreszierender Folie installiert. Das leichte Überstrahlen der leuchtenden Linien erinnert an den Graphitstaub, der eine klassische Bleistiftlinie begleitet. Die Verbannung jeglicher Binnenzeichnung stanzt die Form in das Dunkel des Raums. Durch den enormen Kontrast scheint sich die Zeichnung vom Träger zu lösen und schwebt förmlich im Raum. Beim Betreten des Ausstellungsraums wird man Teil der Installation und kann durch die Begehung den Schwung der Linie physisch erfahren. Das Abschreiten zeichnet nicht nur die Linie nach, sondern es ergibt sich aus der Bewegung auch ein Netz imaginärer Linien.

Barbara Heinrich
Kunsthalle Fridericianum, Kassel

Einleitung zum Buch Flora non grata

Handschins Arbeiten führen vom Sehen zum Denken. Viel wird über die Natur in diesem Buch, wenig über die Kunst reflektiert. Apologeten der Zeichnung setzen den Umriss als formspezifisch geradezu an den Anfang der Kunst. Schon Plinius kennt die "Geburtsstunde der Zeichenkunst": Debutades, Tochter eines Töpfers in Korinth, zieht beim Abschied den Schlagschatten ihres Geliebten nach und füllt die Kontur mit Schwarz. Viel später führt der Weg vom Schattenbild zum Scherenschnitt, dem ausgerechnet ein Finanzminister seinen Namen schenkt - Etienne de Silhouette. Handschins Arbeiten allerdings sind grossformatige, mit dem Messer gefertigte Papierschnitte. Typologisieren leitet über zur Morphologie, zum anschaulichen Gestaltvergleich(Goethes "Urpflanze"). Anders aber als klassifizierende Wissenschaft führt Kunst die Erinnerung und Imagination des Betrachters. Linnésche Systeme und neoromantische Naturphilosophien werden aufgerufen.

Die raumgreifenden Papierschnitte aus schwarzem oder konträr aus fluoreszierendem Papier, die "begehbaren Leuchtzeichnungen", verfremden anamorphotisch die Flora. Verdrängen der Binnenzeichnung erzielt Flächenkonformismus. Das Hard-edge der Cut-outs erlaubt den Schritt zum Dekor-Rapport. Samenkapseln werden Anlass zur Plastik. In Porzellangips monumentalisiert wirken sie naturfern, simulieren dem Wissenden Formideale der klassischen Moderne: spät-funktionalistische, handschmeichlerische Stromlinie oder neosurreale, spitze und hakige Psychoagression, elegante Flugkörper oder bedrohliche Waffenarsenale, hieb- und stichfest. Evolutionsbedingte Zweckmässigkeit der Natur und scheinbar autonome Form kongruieren.

Bernhard Kerber, Berlin